Ein paar Tage Bedenkzeit und die Idee wird zum Plan. Das fühlt sich verdammt gut an: umziehen im Schneckentempo. Es liegen anderthalb Monate Zeit vor mir, in der nichts geplant ist, außer irgendwann anzukommen. Obwohl, eigentlich noch nicht mal das. Einfach nur unterwegs sein. Es dauert ein paar Tage, bis der Stress der letzten Wochen abfällt und ich zur Ruhe komme. Das Flugwetter ist nicht gerade auf meiner Seite, ich muss geduldig 0,3 m Bärte und Nullschieber ausdrehen und komme nur langsam voran, was meinem Ehrgeiz schwer fällt. Aber das Wetter und meine schlechte Kondition lassen mir gar keine andere Wahl.
Nach zehn Tagen komme ich am Achensee erstmalig in den Genuss eines offiziellen Startplatzes: Gemähter, ebener Rasen ohne Steine, endlos Platz zum Laufen, Windfahnen überall, andere Piloten, die man beobachten kann…Was für ein Luxus! Erst jetzt wird mir klar, mit was für üblen Startplätzen ich sonst klar kommen muss. Das Flugwetter schaut gar nicht so schlecht aus und ich will weiter Richtung Westen fliegen. Nur wenige Piloten wagen heute den Sprung über den Achensee, keiner schafft es weiter. Es ist sehr bockig in der Luft, ich kann aber gut Höhe tanken. Leider finde ich keinen Thermikanschluss. Ich weiss, dass das Flugwetter die nächsten Tage miserabel wird, und so muss mich in der Luft blitzschnell entscheiden, wo ich absaufen will. „Lieber durchs Karwendel wandern als das schnöde Inntal entlang latschen“, denke ich, mache eine 180° Kehre und fliege zum Landeplatz am Achensee. Ich bin enttäuscht und wütend auf mich, dass ich heute nicht weiter geflogen bin. Sogar so sehr, dass ich mein Dogma breche und mit der Seilbahn fahre. Natürlich bringt das überhaupt nichts und ich stehe eine Stunde später wieder am Landeplatz.
Zu Fuss gehts weiter zum Wettersteinmassiv und nach acht Tagen Schirm tragen, fand ich es nur fair, dass er mich auch mal wieder trägt: In der „Neuen Welt“ auf der Südseite der Zugspitze starte ich raus und komme bis an den Heiterwanger See bei Reutte. Wie schön es ist, endlich wieder in der Luft zu sein, zu fliegen. Wenn man etwas mehr Ehrgeiz hätte wie ich und körperlich fitter wäre, könnte man in der gleichen Zeit sicher dreimal so weit kommen. Aber „effizient sein“ muss man schon den Rest des Jahres und ich genieße die selbsterteilte Langsamkeit. Riskante Toplandemanöver und reingewürgte Hanglandungen reizen mich immer weniger und so lande ich oft abends im Tal und steige lieber am nächsten Morgen gemütlich wieder auf. Oft werde ich von Wanderern und Gleitschirmfliegern angesprochen und der Vergleich mit den X-Alps lässt nicht lange auf sich warten. Täglich hatte ich im Sommer den Livetracker der X-Alps verfolgt und bewundere die Leistung der Sportler und Supporter. Gleichzeitig finde ich diese Veranstaltung aber auch abschreckend, weil sie im Widerspruch zu dem steht, was für mich Gleitschirmfliegen bedeutet: Freiheit und Ruhe.
Nach dreieinhalb Wochen kann ich aus meinem Gurtzeug, 1.800 Meter über der Erde, das erste Mal den Bodensee am Horizont sehen und beschliesse spontan, den Rest Diretissima nach Freiburg zu gehen, anstatt noch weiter in die Zentralschweiz zu fliegen. Das letzte Stück nochmal besonders bewusst und mit leichtem Gepäck, zu gehen. Im letzten Fluggebiet vor dem Bodensee, gönne ich mir nochmal drei Tage Seilbahn Fliegen. Einfach so zur Gaudi. Meinen letzten Flug mach ich von Andelsbuch über Dornbirn an die Schweizer Grenze, packe etwas wehmütig meinen Flügel ein und gebe ihm einem Freund. Es ist nur ein Haufen clever zusammengenähter Stoff, aber für mich ist er ein guter Freund geworden. Ein treuer Wegbegleiter, eine warme Zudecke, mein Flügel zur Freiheit. Er hat mich auf dieser Reise viele Kilometer durch die Luft getragen, ich konnte mich immer auf ihn verlassen.
So langsam fange ich an zu begreifen, dass ich die rund 700 km wirklich zu Fuss hierher gelaufen und geflogen bin. Man kennt den einen Lebensort und den anderen; sogar einige Gegenden dazwischen, und man ist unzählige Male mit dem Auto daran vorbei gefahren. Aber zu Fuss reihen sich alle diese Orte und Erlebnisse wie eine vollständige Perlenschnur hintereinander auf.
Der letzte Morgen hat einen besonderen Zauber: Heute weiss ich zum allerersten Mal morgens, wo ich abends sein werde. Ein letztes Mal Rucksack packen und Wasserflasche auffüllen. 42 Tage nach dem Start in Berchtesgaden schlendern wir, fast beiläufig, auf den belebten Freiburger Münsterplatz. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe barfuss die letzten Meter zum Münsterportal. Wir umarmen uns fest, müssen lachen und weinen gleichzeitig.
Olga von Plate ist leidenschaftliche Bergsteigerin und Gleitschirmpilotin. Besonders reizen sie lange Biwakabenteur, das Material reduziert auf ein Minimum. Alles was gebraucht wird, passt in den Rucksack. Im echten Leben ist die Freiburgerin Kamerafrau und Fotografin im Berg- und Extremsportbereich.