Abenteuer beginnt für mich dort, wo der Plan endet. Ich weiss, Ungewissheit ist für viele unangenehm. Ungewissheit geniessen zu können habe ich über die Jahre gelernt. Es ist für mich wie ein grosses Rätsel, für das man eine Lösung finden muss. Wenn ich plötzlich vor einer Herausforderung stehe und spontan agieren muss, wenn Plan A, B und C nicht aufgehen: Das macht für mich ein Abenteuer aus. All das vereinen die X-Alps für mich. Ich kenne die Alpen fast wie meine linke Westentasche, aber es ist doch jedes Mal anders. Anderes Wetter, andere Linienwahl und auch meine physische und mentale Verfassung variiert. Das alles ist nicht planbar, und genau das macht es spannend.
Beim Fliegen ist heute viel mehr planbar als früher. Das hat auch das Erlebnis der X-Alps verändert. Durch die ganze Elektronik und Wetterprognosen sind 80 Prozent des Rennens planbar geworden. Fehler kosten mich heute ein paar Minuten, aber keinen ganzen Tag mehr. Der Reiz liegt in den restlichen 20 Prozent. Im Unbekannten. Die X-Alps zwingen mich an gewisse Orte zu gewissen Uhrzeiten zu gehen, an die ich so nie gehen würde. So wurde ich auch schon abends von der Umkehrthermik oder morgens um Neun von einer ersten Ablösung überrascht. So etwas bringt mich dann unerwartet viele Kilometer vorwärts. Das lässt mich neue Lösungen finden und ich lerne Dinge, die ich sonst nie lernen würde. Zum Beispiel, dass auch ein Föhn kontrollierbar sein kann und sich das Wetter oft nicht an den Wetterbericht hält.
Den Fokus schnell wiederzufinden, wenn alle Pläne nicht aufgehen, ist der wahrscheinlich wichtigste Skill, um zu gewinnen. Deshalb ist es neben all der fliegerischen Leistung am wichtigsten, die Resilienz zu trainieren. Ich muss in der Lage sein, einen neuen Plan zu machen und vor allem völlig überzeugt sein, dass er der beste ist. Manchmal ist es gut, eine Weile in der Gruppe zu fliegen und zu taktieren. Wer mit anderen mitfliegt, kann auch weit kommen, aber man kann nicht einfach so überholen. Nur wenn man auch angreift, kann man als Erster ins Ziel fliegen. Aus der Gruppe auszubrechen und seinen eigenen Plan durchzuziehen ist eine mentale Fähigkeit, die man sich erst aneignen muss. Und da kann man absolut keine Selbstzweifel gebrauchen.
Während der X-Alps kleben die Zuschauer förmlich an den Bildschirmen vor dem Live Tracking. Von aussen wird viel auf Leistung geachtet und wer gerade in Führung ist. Klar, wir sind im Wettkampf. Im Grossen und Ganzen suche ich Abenteuer, weil es Spass macht. Ich sage bewusst im Grossen und Ganzen, denn ich kann mir Spassigeres vorstellen als in einer 8-Meter-Thermik zu fliegen. Da ist volle Konzentration gefragt. Solche Situationen bringen mich weiter und ohne die X-Alps hätte ich sicher nicht die Skills erlangt, die ich heute habe. Keiner würde stundenlang in den Alpen im Starkwind fliegen, wenn es nicht darum gehen würde, Fortschritt zu machen. Die Glücksgefühle kommen dann hinterher, wenn ich realisiere, dass ich es geschafft habe. Genau das ist mein persönlicher Treibstoff.
Ich mag es, dass die X-Alps in den letzten Jahren mehr zum Teamsport geworden sind. Früher war ich oft alleine unterwegs, mittlerweile legen wir weite Teile des Rennens in Gruppen zurück. Wir helfen uns gegenseitig, wandern und überlegen gemeinsam. Das schweisst zusammen, man ist im Wettkampf vereint. Das ist eine schöne Entwicklung, die am Ende für alle besser ist. Wer sich zusammentut, ist effizienter als der, der seine Gedanken nicht teilt. Der Sieg hängt nicht von einem geheimgehaltenen Plan ab, sondern wie man den Plan umsetzt. Strategien besprechen hat noch nie einen Unterschied gemacht, ob ich Erster werde oder nicht.
Den Schritt raus aus der Komfortzone kann man hassen oder lieben. Für mich gilt Letzteres. Etwas zu riskieren ist für mich nach all der Zeit aber nicht normal geworden. Es gibt zwei Komponenten, die ein Risiko für mich abwägbar machen. Zum einen spielt Nervosität immer noch eine essentielle Rolle. Sie erzeugt Fokus, um richtig zu agieren. Dadurch werden heikle Situationen kontrollierbar. Zum anderen ist mein Bauchgefühl entscheidend. Wenn es nicht gut ist, riskiere ich weniger, oder ich überlege mir, was ich ändern kann, damit es besser wird. Richtig riskant wird es aus meiner Sicht erst, wenn man nicht mehr richtig abwägt und übermütig wird. Wenn ich das Gefühl habe, alles im Griff zu haben, ist auch das häufig ein Alarmzeichen. Ich setze definitiv nicht alles auf Risiko. Ich bin aber bereit abwägbare Risiken einzugehen, wenn ich weiss, dass es sich auszahlt.
Ich frage mich manchmal, ob Abenteuer süchtig macht. Eigentlich macht es mich hauptsächlich müde. Aber die körperliche Betätigung, der Reiz der Ungewissheit und der Teamspirit - das ist es, was mich immer wieder das Abenteuer suchen lässt. Man könnte fast sagen, dass es schon zu meiner Komfortzone geworden ist, ebendiese zu verlassen. Deshalb geniesse ich jetzt schon Vorfreude auf die nächste Ausgabe des vielseitigsten Abenteuerrennens der Welt.
Chrigel Maurer hat bereits acht Mal die X-Alps gewonnen, dreimal in Serie den Gesamtweltcup und wurde Europameister. "Der Adler vom Adelboden" ist jedem Gleitschirmpiloten ein Begriff. Sein enormes Wissen gibt er in unzähligen Vorträgen, über die von ihm gegründete X-Alps Academy oder anlässlich von persönlichen Coachings an Piloten und Nachwuchstalente weiter.
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