Die Rotorblätter der Bell 212 drehen sich immer schneller, die Turbinen auf Höchstleistung – der schwere Air Greenland Helikopter hebt ab. Ich winke den beiden Piloten zu und stehe alleine im südgrönlandischen Aappilattoq, unweit des Kap Farvel entfernt. 90 Einwohner, ein letzter Außenposten der Zivilisation. Ein paar bunte Häuser, eine Kirche und eine kleine Fischfabrik umrahmt von spitzen Bergen, begrenzt durch das Meer – beeindruckend. Ich schnappe meinen Rucksack und laufe den Weg vom Heliport in die Siedlung hinunter. Dort treffe ich Timo. Er wird mich mit dem Boot zu meinem Ausgangspunkt bringen. Von dort an werde ich auf mich allein gestellt sein.
Im Boot erwähnt Timo beiläufig, dass im Nachbarfjord ein Eisbär gesichtet worden sei. „Hast Du ein Messer dabei?“ Bei dieser Frage greife ich instinktiv zu meinem Messer in der Hosentasche. „Wenn ich mit dieser Klinge einen Eisbären in die Flucht schlage, schaffe ich es bestimmt auf die Titelseite jeder Tageszeitung“, denke ich mir. Zehn Minuten später legen wir an. Timo wünscht mir noch viel Glück, sagt mir, dass es „ziemlich crazy“ ist, was ich hier mache und rast davon. Nun gibt es kein zurück mehr – es gibt nur noch eine Richtung: Ulamertorsuaq.
Der Motor von Timo verhallt. Zurück bleibt Stille, ein bleierner Himmel, mein Rucksack und ich. Ich folge dem Fluss auf der rechten Seite und laufe bis zum Abend immer tiefer in das Tal hinein. Melancholische Stimmung – Schneebänder spiegeln sich im Wasser. Am Rand eines Sees finde ich eine ebene Fläche auf einer wunderbaren Wiese. Optimal, um mein kleines Zelt für die Nacht aufzustellen.
Am nächsten Tag ist mein Rucksack noch immer mindestens 25 Kilo schwer und das Gelände wird anspruchsvoll. Ein anstrengender Aufstieg steht bevor. Am Abend dann die Belohnung: ich entdecke meinen spektakulärsten Campsite ever. In einer mit weichen Krähenbeeren bewachsenen, breiten Felsspalte hoch über dem Fjord schlage ich mein Zelt auf – es passt genau hinein. Die Aussicht ist schlicht phänomenal.
Ganze drei Tage und Nächte verbringe ich hier oben und warte, bis der Regen endlich wieder aufhört. Ich geniesse diese Zeit, ganz allein über dem Fjord, weit weg von jeglicher Zivilisation in mitten einer phänomenalen Wolkenstimmung. Zwischendurch kann ich mich nach geeigneten Startplätzen umschauen.
Endlich, an Tag fünf meiner Reise steht der Wind optimal an. Wäre da nicht die Wolke, die sich unter mir ständig aufbaut. Keine Sicht – kein Start – es ist nasskalt. Ich warte und warte...Nach über zwei Stunden reißt es kurz auf, meine Gelegenheit. Nichts wie raus! Take off und ich verlasse fliegend und jubelnd diesen einzigartigen Platz in Richtung Westen. Unter der Wolke verliere ich kaum an Höhe und am Hang piepst es sogar zaghaft – phantastisch der Blick über den Fjord aus der Vogelperspektive. Die Flugzeit bis zur Landung beträgt mit 650 Höhenmetern kaum 20 Minuten. Es ist trotzdem einer meiner großartigsten Flüge. Der Plan ist aufgegangen. Sanft setze ich gegen den Wind auf. Ein Gefühl wie nach meinem ersten 100 Kilometerflug. Unbeschreiblich.
Durch das Tal Itillersuaq geht es nach Tasiusaq. Hier gibt es wieder ein kleines Dorf, gut für mich – meine Essensvorräte sind fast aufgebraucht. Angesichts des Warenangebots bin ich etwas ernüchtert. Trockennahrung gibt es nicht wirklich. Somit erreicht mein Rucksack wieder sein Ausgangsgewicht mit seltsamen Lebensmitteln wie tiefgefrorene, rotgefärbte dänische Würstchen. Dafür sind hier im Tasiusaq die Flanken der Berge optimal für den täglichen Fjordwind angeströmt. Ich kann im „JoJo Stil“ immer wieder fliegen. Also Berg rauf, runter zum Strand fliegen und weiter. Irgendwann erscheint in der Ferne der Ulamertorsuaq. Ungläubig schaue ich zum Gipfel, denn nur ein schmaler Sonnenstreifen beleuchtet den Gipfelaufbau. Im letzten Licht baue ich mein Zelt auf. Alsbald offenbart sich ein sensationelles Himmelspektakel – überall Polarlichter. Die grünen Schleier zucken und tanzen über meinem Kopf. Ich kann mein Glück kaum fassen. Eine unglaubliche Zufriedenheit macht sich in mir breit. Mein Ziel Ulamertorsuaq ist in Reichweite.
Ich blieb noch ein paar Tage am Ulamertorsuaq und flog von verschiedenen Bergflanken. Trotz insgesamt durchwachsenen Wetters konnte ich ein paar Thermikbärte auskurbeln. Mit bis zu 3 m /sec ging es in Richtung Basis. Diese Soloreise war so dermaßen intensiv, herausfordernd und frei, das es nur schwer in Worte zu fassen ist. Die meiste Zeit bin ich gelaufen, ich wäre gern mehr geflogen. Dennoch, jeder einzelne Flug war sensationell. Insgesamt war ich fünf Wochen unterwegs, zuerst mit Kajak und Gleitschirm, später dann auf der zweiwöchigen hier beschrieben Tour nur mit dem Gleitschirm.
Björn Klaassen ist Dipl. Forstingenieur, Forstwirt und Fluglehrer sowie stellvertretender Geschäftsleiter beim DHV. Nebenher hält er Vorträge über seine Abenteuer in Grönland.