Hike&Fly ist meine persönliche Definition vom Gleitschirmfliegen. Daher bin ich sofort dabei, als die Idee vom Ortler aufkommt. Fanny und ich haben weniger Flugerfahrung, sind dafür alpinistisch fit, wir kümmern uns um den Aufstieg. Während die Jungs, beide seit Jahren in der Luft, für den Abstieg verantwortlich sind.
Schon von weitem sahen wir die Hütte, links die Seracs und Gletscherabbrüche von Königsspitze und Zebru. Vor uns liegt der Hintergrat, unser morgiges Ziel. In der Hütte angekommen, gehe ich nochmals die Tour durch, fühle mich verantwortlich für den Aufstieg. Ich überdenke unseren Zeitplan und entscheide mich für frühes Bettgehen und noch früheres Aufstehen. Die Anspannung ist bereits deutlich zu spüren. Fanny und ich haben Respekt vor dem Flug, die Jungs machen sich Gedanken über den Aufstieg. Und dennoch, für uns alle ist die Tour etwas ganz Besonderes.
Der Wecker klingelt früh am nächsten Morgen. Noch ist es stockfinster. Wir stehen auf, packen unsere Sachen, genehmigen uns ein schnelles Frühstück und los gehts. Um uns herum tanzen die Lichter der anderen Bergsteiger. Wir kommen gut voran, manche Passagen sichern wir, viele gehen wir seilfrei. Ich bin nervös, meine Gedanken drehen sich bereits um den Flug. „Beruhige dich, erst der Grat, dann der Flug. Eins nach dem anderen“, sagt meine innere Stimme. Mein Blick schweift ab, zu den Bergen um uns herum. Und wieder einmal muss ich feststellen, wie gern ich draussen bin. Der Schnee, das Eis, die Seracs, das alles hat mich schon immer fasziniert. Zum ersten Mal ist es mir egal, ob wir fliegen oder nicht. Ich geniesse den Augenblick, es sind noch wenige Meter bis zum Gipfel. Als ich oben ankomme, blicke ich in strahlende Gesichter. Was für ein Tag!
So richtig geniessen kann ich den Gipfel allerdings nicht. Jetzt kam – zumindest für mich – der schwierigere Teil des Tages. Der Flug. Wir packten unsere Sachen, gehen Richtung Startplatz. Umso näher wir kommen, desto mehr wird mir bewusst: Der Wind ist perfekt. Meine Aufregung wird weniger, die Zuversicht grösser. Wir legen unsere Schirme aus – ein letztes obligatorisches Selfie und dann: Start frei. Ich brauche genau zwei Schritte und fliege. Fühle mich frei, erlöst, schwebe über die Gletscherspalten und Seracs. Was für ein Geschenk. Wahrhaftig königlich.
Zeitsprung: Die Sonne strahlt auf unsere Rücken. Wir sind vor zwei Stunden am Gipfel gestanden, vor einer gelandet. Jetzt steht der Kaffee mit Apfelstrudel und extra Portion Sahne vor mir. Ich lasse die letzten Stunden Revue passieren. Heute haben wir alles erreicht. Mein ganz persönlicher Traum vom Gleitschirmfliegen – vom Gipfel in wenigen Minuten ins Tal. Und dennoch ist mir klar, dass es nicht immer so läuft. Wir könnten uns jetzt auch irgendwo im Abstieg befinden…
v.l.n.r.:
Ben Liebermeister fliegt seit über 20 Jahren – mittlerweile meistens mit dem Acroschirm.
Fanny Dünsser ist bevorzugt beim Hike&Fly unterwegs.
Raphaela Haug ist im Allgäu aufgewachsen und hat mit dem Gleitschirmfliegen angefangen, um sich das Runterlaufen zu ersparen.
Sesi Mackrodt studiert in München und arbeitet als Testpilot beim DHV.