Kaum ein Berg hat die Fantasien der Alpinisten in den vergangenen hundert Jahren so bewegt wie der Eiger. Die dramatischen Versuche in den 1930er Jahren durch die 1.650 m hohe Nordwand zu steigen, haben diesen Berg zu einem Mythos werden lassen. Dabei ist er nur ein Teil einer der faszinierendsten Bergformationen der Alpen. Komplettiert wird sie von Mönch und Jungfrau. Wer von der Zwei-Seenstadt Interlaken den Blick gen Süden richtet, kommt aus dem Staunen über die ganzjährig vereiste kolossale Bergwelt kaum heraus. Dort möchten wir fliegen, Greg Blondeau, Chrigel Maurer und ich. Ein Unterfangen, das uns mehr fordern wird als wir ahnen.
Tagelang beobachten wir das Wetter, checken alle zur Verfügung stehenden Daten und kommen immer wieder zu dem Schluss, dass es nicht geht. Neun Mal fuhr ich im Herbst hinauf aufs Joch, immer mit dem Wunsch, einmal auf einen dieser Berner Riesen hinaufzufliegen. Doch der Wind war mal zu schwach, mal zu stark, mal zu sehr von Osten. Fast kam es mir vor, als ob diese drei Gipfel nicht gestört werden wollten. Doch dann, nach Wochen des Wartens ist es endlich soweit. Voller Spannung steigen wir in die Berner Oberlandbahn am Bahnhof Interlaken-Ost. Nach über einer Stunde Fahrt erreichen wir die Kleine Scheidegg und wechseln in die Jungfraubahn. Die 1912 eröffnete Zahnradbahn ist einmalig in Europa. Auf ihrer zehn Kilometer langen Strecke durchquert sie den Eiger und Mönch und überwindet in knapp einer Stunde 1.400 Höhenmeter. Die Bergstation Jungfraujoch ist der höchste Bahnhof Europas. Die Luft hier oben auf 3.500 m Höhe ist erheblich dünn. Unsere Augen schweifen nach oben. Gut tausend Meter trennen uns vom Jungfrau-Gipfel. Mächtige Schneefahnen deuten auf viel Wind. Wir fühlen uns klein und zögern. Allerdings nur kurz, denn ein erneuter Check der Winddaten auf dem Joch bestätigt: Die Bedingungen sind ideal: 30 km/h, mit 40er Spitzen. Heute könnte es klappen! Wenige Minuten später machen wir uns fertig. Es ist empfindlich kalt. Deshalb packen wir uns warm ein und stecken noch Wärmebeutel in die Handschuhe.Dann betreten wir das Gletscherplateau. Eisig und böig pfeift der Wind – zum Glück aus der richtigen Richtung.
Die Startplatzwahl bedarf unserer vollen Konzentration. Wer zu hoch auf den Sattel geht, läuft Gefahr vom starken Wind beim Aufziehen nach hinten über die Kante gerissen zu werden. Weiter vorne jedoch sollte man jeden Schritt genau abwägen. Auf dem Plateau lauern zahlreiche Gletscherspalten. Jetzt, im Winter, sind sie kaum auszumachen, der Schnee verdeckt sie. Er ist jedoch nicht verfestigt und würde sofort nachgeben, wenn man auf sie tritt. Wir sind uns der Gefahr bewusst, dementsprechend angespannt verlaufen unsere Startvorbereitungen. Immer wieder verbläst der Wind unsere Schirme. Hinzu kommt die flache Neigung des Geländes, so dass die Kappe in der Aufziehphase stark hebelt.
Doch dann, endlich! Der Schirm kommt gut hoch, es folgen einige Schritte, ein kurzes Abheben, Wieder-Aufsetzen und weitere Schritte. Dann lösen sich die Füsse endültig vom Boden. Kaum habe ich die Sitzpositione eingenommen, schüttelt es kräftig. Es ist unangenehm turbulent, die Rotoren der vorgelagerten Kante reichen weit zurück. Volle Konzentration ist gefragt. Vorne an der Kante wird es dann ruhig. Und plötzlich geht es nach oben. Rasant! Die Touristen auf dem Plateau sind nur noch kleine Pünktchen. Zu Dritt hängen wir uns in das breite Aufwindband vor dem Mönchsnollen. Chrigel fliegt nach Nordosten Richtung Eiger und erscheint plötzlich 500 Meter über uns. Er ist weit über dem Mönchsgipfel. Auch Greg und ich wenden uns auch Richtung Mönch und stellen unsere Schirme hundert Meter vor der Nordwand in den Wind. Wie im Aufzug geht es nach oben. Wir überhöhen den Gipfel und fliegen hinüber zur Jungfrau.
Dort wird es noch besser. Dreihundert Meter vor der Gipfelwand geht es auch hier in Nullkommanichts nach oben. Bald sind wir weit über dem mit 4.158 m dritthöchsten Berg der Berner Alpen. Unter uns breiten sich unzählige tief verschneite Berge aus. In uns macht sich das Gefühl breit, im Jetstream zu hängen. Das Jungfraujoch liegt tausend Meter unter uns, das Mittelland unter einer Nebeldecke gar viertausend. Am Horizont erstrecken sich die lieblichen Hügel des Jura. Wir drehen hinüber zum Eiger, werfen einen Blick in die reifüberzogene Nordwand. Spielend leicht geht es über den Gipfel hinweg zurück zum Mönch. Die Sonne steht schon tief, doch wir soaren wieder hinauf. Selbst fünfhundert Meter vor der Wand steigt es grossflächig und gleichmäßig in den Abend hinein. Wir sind wie im Rausch, überwältigt von den Eindrücken und können unser Glück kaum fassen. Es ist erst Mitte Januar, der erste Flug des Jahres, und schon haben wir uns einen unserer grössten Gleitschirmträume erfüllt.
Max Mittmann war einer von drei deutschen Teilnehmern beim Xalps 2011. Auf ausgedehnten Hike und Fly-Touren kann er seine Leidenschaft für den Bergsport und die Faszination fürs Fliegen optimal verbinden.
Greg Blondeau ist langjähriger ADVANCE-Tespilot und arbeitet als professioneller Tandempilot. In seiner Freizeit geht der Europameister von 2008 gerne auf Strecke – in seiner Heimat Frankreich und in seiner Wahlheimat Schweiz.
Chrigel Maurer (u.a. 5-facher Xalps-Gewinner, mehrfacher Weltcupgesamtsieger, Schweizer Akro-Meister) ist einer der wenigen Gleitschirmpiloten, die sich über die Szene hinaus weltweit einen Namen gemacht haben.