Der Karakorum macht süchtig. Wer einmal vor dieser einzigartigen Bergkulisse geflogen ist, will es immer wieder. Deshalb kehrte Tom de Dorlodot schon zum siebten Mal in diesen abgelegenen Erdteil zurück. Es ist ein Ort der Extreme – wie gemacht für Piloten, die Rekorde knacken und neue Routen erschliessen wollen. Für sein neustes Projekt hatte Tom den mehrfachen Acro-Weltmeister Horacio Llorens sowie den Spitzenpiloten Ramon Morillas gewinnen können. Höhepunkt der Expedition sollte ein Überflug über den 8611 Meter hohen K2 sein. Der aktuelle Weltrekord wurde im Jahr 2021 am benachbarten Broad Peak realisiert. Antoine Girard stieg damals auf 8407 Meter.
„Höhenfliegen ist eine Disziplin für sich“, so Tom, „Denn ab 7500 Metern stellt die Thermik meistens ab, dann brauchst du Höhenwinde, um über die Gipfel aufzusoaren. Wenn der Wind zu stark ist, besteht beim K2 die Gefahr, dass es dich nach China bläst. Ein No go. Wenn er zu schwach ist, kommst du nicht hoch.“ Denn aufgrund des geringen Luftwiderstandes in der grossen Höhe beträgt der Grundspeed des Gleitschirmes über 50 km/h.
Die Karakorum-Region hat fast nur Superlative zu bieten: Nicht nur die höchste Konzentration an höchsten Gipfeln, sondern auch der wohl grösste Talgletscher der Welt. „Die Dimensionen des Baltoro Glacier sind unvorstellbar. Erst aus der Luft bekommst du eine Idee seiner Grösse“, so Tom. „Der Hauptgletscher ist über 60 km lang. Alles Spalten, Séracs und haushohe Eisblöcke. Hier landen? Ausgeschlossen! Unsere Anflugroute zum K2 führt entlang des Baltoro. Er ist das Eintrittsticket zum zweithöchsten Berg der Welt.“
Das Basecamp des Teams (drei Piloten, zwei Guides, ein Koch) befand sich in Paiju auf 3370 Meter, etwas unterhalb der letzten Abbrüche des Baltoro. Einmal installiert, galt es einen geeigneten Startplatz zu finden. „Fast unmöglich. Überall ist es abschüssig, felsig und teilweise überwachsen“, erinnert sich Tom. Also stiegen die drei Piloten erst einmal anderthalb Stunden die Geröllhalden hoch. „Rund 800 Meter über unserem Basecamp wurden wir fündig. Aber wir mussten tüchtig Steine und Buschwerk wegräumen. Am Ende sah das fast wie ein offizieller Startplatz aus.“
Die Piloten erwischten einen perfekten Start: blauer Himmel, zuverlässige, ruhige Thermik bis zu 7 m/s. „Die ersten zehn Tage waren ein Geschenk. Wir konnten Tag für Tag fliegen und die Gegend kennenlernen. Jeden Thermikschlauch auf dem rund 40 km langen Weg zum K2 haben wir ausgecheckt und Optionen durchgespielt“, so Tom. Schon am dritten Flugtag eröffneten die Piloten die Linie zum K2 und soarten an dessen Flanken. Bei 7200 m war jedoch Schluss. Es gab keinen Höhenwind, der die Rekordjäger den Flanken entlang zum Gipfel hochgetragen hätte.
Auf ihren weiteren vier Anflügen zum K2 stiegen die Piloten bis zu 7500 Meter hoch. „Um auf über 7000 zu kommen, brauchst du oft weniger als eine halbe Stunde. Das bringt deinen Körper ans Limit. Er kann sich nicht schnell genug akklimatisieren. Wir waren deshalb mit Sauerstoff unterwegs.“ Tom weiss, wie sich ein plötzliches Blackout anfühlt: „Das ist mir schon zwei Mal passiert. Deshalb wollten wir hier auf Nummer sicher gehen.“
Der Anflug zum K2 war wie der tägliche Arbeitsweg: Er führte über sieben Seitentäler bzw. Seitengletscher bis zu Concordiaplatz, jenem Ort, an dem der Baltoro- und der Godwin-Austen-Gletscher zusammenfliessen. „Wir fühlten uns wie die Explorer von damals“, so Tom, „wir entdecken fliegerisches Neuland. Wir überquerten zahlreiche völlig unerschlossene Gebiete und flogen über noch nie bestiegene Gipfel.“ Verblüfft waren die Piloten, als sie an den Flanken des K2 plötzlich einen Adler kreisen sahen. „Wow! Der König der Lüfte. Auf über 7000 Metern. Eine Weile flogen wir mit ihm um die Wette. Dann bog er in Richtung China ab. Wir mussten passen…“
Safety first. Das war die Devise bei allen Flügen. Die Unwegsamkeit des Geländes und die riesigen Distanzen zurück zum Camp schlossen eine Landung praktisch aus. Einmal passierte es trotzdem: Auf einem Rückflug vom K2 verpasste Ramon den Thermikanschluss. Seine letzte Option: Landung beim Basecamp des Broad Peak auf 4900 Meter. Die Alpinisten nahmen ihn für eine Nacht auf. Dann ging’s zu Fuss zurück nach Paiju: zweieinhalb beschwerliche Tage, jeweils über 12 Stunden auf den Beinen.
Nach den Adrenalinschüben der ersten zehn Flugtage dann die Schlechtwetterwolken und schliesslich der Regen. Doch das Pilotenteam – mittlerweile nur noch Tom und Horacio – liess sich nicht entmutigen: „Wir haben eine Woche ausgeharrt. Dann sind wir in einem Tagesmarsch in die nächste Ortschaft abgestiegen. Endlich mal wieder mit unseren Familien plaudern und frisches Obst essen!“ Dann klart der Himmel endlich wieder auf und es gibt good News: „Für die kommenden Tage ist moderater Höhenwind bei schönem Wetter angesagt. Wir wittern eine letzte Chance“, berichtet Tom.
Als Tom und Horacio am 19. Juli um 6 Uhr zum Zelt rausschauten, wussten sie: Das ist der Tag. Sie packten Equipment und etwas Proviant ein: Ein hartes Ei und eine gekochte Kartoffel – mehr lag nicht drin bei den wenigen Vorräten, die ihnen noch blieben. Um die Mittagszeit hoben sie ab in Richtung K2. Der Weg führte vorbei an den imposanten Trango Towers. Und weil die Bedingungen so gut waren, steuerten sie auch gleich noch den Muztagh Tower (7273 Meter) an. „Das war eine Premiere.“
Etwas später erreicht das Team den K2. „Es war unser fünfter und letzter Anlauf. Wieder konnten wir auf ca. 7200 Meter aufdrehen. Es gab 15 km/h Wind. Doch es reichte ganz knapp nicht, um dynamisch Höhe zu gewinnen. Klar, waren wir etwas frustriert: Der perfekte Tag, der richtige Wind, wir waren am richtigen Ort – aber uns fehlte einfach das letzte Quäntchen Glück.“
„Okay, haben wir uns gedacht, dann fliegen wir zum nächsten Achttausender weiter.“ Die beiden Piloten flogen über den Baltoro-Gletscher zum 10 km entfernten Broad Peak. Mittlerweile war es später Nachmittag. Auch am Broad Peak spielte der Wind nicht mit. Also gleich weiter zum Gasherbrum IV, dem nächsten Achttausender. „Der Gasherbrum steht perfekt im Wind. Aber auch hier schafften wir es nicht, im dynamischen Aufwind Höhe zu gewinnen.“
Die Täler lagen bereits im Schatten. Es war Zeit, umzudrehen. „Zurück beim Broad Peak hörten wir am Funk einen Hilferuf. Am Broad Peak wird ein Alpinist vermisst. Es gelang uns, aus der Luft erst den Rucksack und dann den toten Bergsteiger zu orten. Wir funkten die traurigen News an die Expedition zurück. Was wird aus seiner Familie? Was bedeutet das für seine Freunde? Das Erlebnis stimmte uns sehr nachdenklich. Und uns wurde wieder bewusst, wie verletzlich wir Menschen in dieser unwirklichen Gegend sind.“
Rückblickend fasst Tom den „Grand-Slam-Tag“ so zusammen: „Als wir nach etwas über sieben Stunden Flug punktgenau zehn Meter neben unserem Zelt landeten, waren wir trotz anfänglichem Frust am K2 sehr stolz und glücklich. Wir waren auf 7550 Meter, hatten vier der höchsten Gipfel angeflogen und dabei neue Routen erschlossen. Wir fühlten uns jederzeit sicher und gut! Was für ein Privileg, so ein Abenteuer zu leben!“
Toms Rekordprojekt ist nicht vom Tisch: „Klar, wer sich Grosses vornimmt, muss auch einstecken. Unsere Expedition war aber auch so ein Erfolg: Die Bilder und Stories, die wir nach Hause bringen, sind einfach unglaublich. Wir werden zurückkehren. Die Menschen hier sind mir ans Herz gewachsen. Das Karakorum ist ein Paradies. Und wir waren während eines Monats die einzigen Piloten drin.“ Übrigens: Der zweite Vorname von Toms Sohn lautet Karakorum.
Tom de Dorlodot gehört mit 8 Teilnahmen zu den absoluten X-Alps Veteranen. Der Belgier hat in den letzten Jahren auch unzählige VolBiv-Expeditionen nach Pakistan unternommen und das Search Project ins Leben gerufen. Dabei reist er mit seinem Segelboot rund um die Welt und besucht aussergewöhnliche Gleitschirmspots.
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