„Im Grunde brachte uns ein Blick auf die Landkarte die Idee nach Kirgistan zu reisen“, erzählt Fred Souchon. Der Franzose ist Bergretter in Chamonix und fliegt regelmässig am Mont Blanc und den Bergen der Haute-Savoie. „Die Landschaft Kirgistans sah äusserst interessant aus. Besonders die Bergregion im Osten des Landes versprach gute Flüge“, erinnert er sich. Also machten sich die beiden auf den Weg ins Abenteuer.
Täglich liefen Souchon und Beaujouan bis zu vierzig Kilometer und versuchten so oft wie möglich zu fliegen. Ein Unterfangen, das nicht immer einfach war. Vor Ort stellten sie Wetter- und Windverhältnisse oft vor grössere Herausforderungen, als sie erwartet hatten. Dennoch gelangen ihnen eindrückliche Flüge, die nicht selten irgendwo in der kirgisischen Steppe endeten. Dort trafen sie dann auf die einheimische Bevölkerung. „Wenn die Einheimischen uns erblickten, suchten sie erstmal weiter den Himmel ab nach einem Flugzeug“, sagt Fred. „Sie hielten unsere Schirme für Fallschirme.“ Manche seien so verwundert gewesen, zwei Männer mit solchen Schirmen mitten im Nirgendwo zu treffen, dass sie gefragt hätten, ob uns jemand aus dem Flugzeug gestossen habe. „Was sonst hätten wir dort wollen sollen?“
Durch diese Begegnungen lernten Fred und Martin die grosse Gastfreundschaft der Kirgisen kennen: „Wir hatten ein Zelt dabei, aber viele luden uns zu sich in ihre Jurten ein, weil es draussen viel zu gefährlich sei“, erzählt Fred. Anfangs hätten sie sich mit Geld erkenntlich zeigen wollen. „Aber wir merkten schnell, dass sich die Kirgisen dadurch verletzt fühlten. Die Gastfreundschaft ist sehr wichtig. Man teilt, was man hat – selbst wenn es kaum für die eigene Familie reicht.“
Während sich die beiden Franzosen an die Stutenmilch, das Hauptnahrungsmittel der Kirgisen gewöhnten, untersuchten die Gastgeber mit viel Eifer die Ausrüstung. Einen Gleitschirm hatte dort noch niemand gesehen. „Um zu erklären, warum wir diese Reise machen, zeigte ich Bilder aus Chamonix. So sahen sie, dass wir auch aus den Bergen kommen und dort regelmässig fliegen. Vom Mont Blanc hatte der ein oder andere sogar schon gehört“, sagt Fred.
Viele Gipfel des Tian Shan Gebirges in Kirgisistan sind gut zu Fuss erreichbar. So auch der Berg nördlich des Issyk Kul Sees, auf dem Fred und Martin zwei Geier beobachten konnten, die in der Thermik kreisten. So beschlossen sie, ebenfalls zu starten. Nach dem Start wandten sie sich gen Osten. Die Flugbedingungen waren perfekt, die Thermik gut und es gab fast keinen Wind. Die beiden Piloten wollten zu einem Gipfel auf etwa 4.500 Meter Höhe und freuten sich schon auf einen ausgedehnten Flug entlang der Gipfel. „250 Kilometer sind dort möglich“, erzählt Fred. „Immer entlang der 3.000 bis 4.000 Meter hohen Berge!“ Nach etwa 50 Kilometern verdunkelte sich der Himmel jedoch plötzlich. Schwere Cumulonimbus-Wolken zogen auf. Fred und Martin mussten zwingend landen.
Unweit ihres Landeplatzes im Nirgendwo befand sich dann tatsächlich ein Haus. Es war eingefallen und erinnerte mehr an eine Ruine als an eine menschliche Behausung. Doch es lebte ein Mann darin mit seiner Tochter. Fred und Martin fragten, ob sie ein paar Stunden bei ihm bleiben könnten, bis der Sturm vorübergezogen war. Aus den paar Stunden sollten zwei ganze Tage werden. Der Mann hatte sie eingeladen, zu bleiben. Am Morgen des zweiten Tages weckte er die beiden Franzosen noch vor Sonnenaufgang und forderte sie auf mit ihm nach draussen zu kommen. Dort holte er ein Lamm und kniete sich hin, um zu beten. Während des Gebets kroch die Sonne langsam hinter dem Berg hervor. Nachdem der Mann sein Gebet beendet hatte, schlachtete er das Lamm und begann, es zu kochen. Die beiden Franzosen hatten das Ganze für eine Opfer-Zeremonie gehalten, doch später stellte sich heraus, dass es eine ganz besondere Form der Gastfreundschaft war.
Die beiden Franzosen waren nicht ganz ohne Gastgeschenke unterwegs. Für die Kinder hatte Fred hatte eine Auswahl an Sonnenbrillen dabei, die er am Mont Blanc gefunden hatte. Seine eigene schenkte er am letzten Tag ihrem spendablen Gastgeber, „quasi als Dankeschön für das Lamm. Er hat sich riesig gefreut“, erinnert sich Fred. Mit seinen Lämmern sei er viel in den Bergen mit gleissendem Sonnenlicht unterwegs.
„Auch wenn wir nicht so viel fliegen konnten, wie erhofft, ist Kirgistan ein wunderbares Fluggebiet“, sagt Fred. Auf die meisten Berge könne man einfach zu Fuss aufsteigen, unten warteten dann scheinbar endlose Steppen zum Landen. Ausserdem gebe es noch so viel zu entdecken und erleben. Deshalb möchten er und Martin auf jeden Fall wieder dorthin. „Dann mit ausreichend Gastgeschenken.“ Ob man Kirgisistan, Kirgistan oder Kirgisien sagt, ist übrigens egal. Alle drei Bezeichnungen sind richtig.
Fred ist enthusiastischer Gleitschirmflieger, Alpinist und ausgebildeter Bergführer. Beruflich arbeitet er als Bergretter in Chamonix.
Martin ist Gleitschirmfluglehrer und betreibt eine Flugschule. Mit Fred zusammen hat er Kirgisistan im VolBiv-Flug durchquert. Mit Antoine Girard flog er 2.700 km durch Chile und Peru.