Es ist ein Bild wie auf einer Postkarte. Die Sonne hängt im Osten wie eine gleißende Silberscheibe, von deren Rändern silberfarbene Nadeln ins leuchtende Blau des Himmels stechen. Fred hat diesen Anblick schon oft genossen. Als Bergretter am Mont Blanc ist er nahezu täglich am höchsten Berg der Alpen unterwegs. Dennoch ist dieser Moment auch für ihn immer wieder etwas Besonderes. Es ist der Augenblick in dem sich entscheidet, ob der Flug vom Gipfel gelingt – oder eben nicht. „Bis zum letzten Moment weiss man nicht, ob der Start klappt“, erklärt Fred. „Das Gefühl wenn die Füsse dann das Dach der Alpen verlassen, ist deshalb unglaublich“, erzählt er und ergänzt, dass er nach dem Start immer einen Freudenschrei ausstosse.
„Viel Zeit sich über den Start zu freuen, bleibt jedoch nicht. Es warten zu viele Aussichten, die einem unabhängig von der Höhe den Atem nehmen“, sagt Fred. Gleich nach dem Start tauchen unter dem Piloten breite Gletscherspalten und Felsgrate auf. Ausserdem kann man aus der Luft zahlreiche Bergsteiger in den Felsen beobachten. „Wenn ich dies sehe, erinnert es mich jedes Mal daran, wie klein und zerbrechlich wir sind in diesem Ozean aus Schnee und Felsen. Das macht diesen Flug magisch“, erzählt Fred und strahlt.
Diesem magischen Erlebnis geht ein langer Weg voraus, denn Freds Flug beginnt bereits am Tag zuvor – mit dem Aufstieg zum Gipfel. Es wundert nicht, dass der erfahrene Bergretter hierbei auf die Hilfe der Seilbahn verzichtet. „Ich steige in der Nacht von Chamonix aus auf den Gipfel. Das sind fast 4.000 Höhenmeter, aber ich finde, dass es etwas ganz Besonderes ist, so auf den Gipfel zu kommen. Nachts wandern, den Sonnenaufgang auf dem Gipfel erleben und dann abheben – es gibt kaum etwas Schöneres.“ Der Gipfel des Mont Blanc hat den Vorteil, dass man von ihm in verschiedene Richtungen starten kann. So geht es sowohl nach Norden auf die französische Seite, als auch nach Süden auf die italienische. Nach dem Start könne man dann problemlos wieder auf die jeweils andere Seite fliegen. „Grundsätzlich geht es auch nach Westen starten, aber das ist nicht so einfach“, sagt Souchon. „Wenn es am Gipfel zu windig ist gibt es auch die Möglichkeit von der Kuppel am Gouter (4.304 Meter) oder vom Tacul (4.238 Meter) zu abzuheben.“
So leicht das Fliegen vom Mont Blanc in Freds Erzählungen scheint, so sehr weist er daraufhin, dass man diese Besteigung nicht leichtfertig angehen sollte. „Es ist wichtig sowohl körperlich und technisch in diesem Gelände fit zu sein als auch die richtige Ausrüstung dabei zu haben." Selbst wenn man sich für den Aufstieg unter Zuhilfenahme einer der beiden Seilbahnen entscheide. Fred rät deshalb, sich einen Bergführer zu nehmen. „Auch der Start ist keinesfalls zu unterschätzen. Der Schnee und die besondere Höhe machen den Start weitaus schwieriger als von Startbergen mit 1.000 oder 2.000 Metern“, erläutert Fred.
Der Aufstieg auf und der Flug vom Mont Blanc bedürfen aufgrund des hochalpinen Geländes einer seriösen Vorbereitung. Am besten engagiert man einen Bergführer, der auch Pilot ist. Die Aufstiegsroute führt entweder von der Bergstation Aiguille du Midi über den Mont Blanc du Tacul und den Mont Maudit auf den Mont Blanc Gipfel oder von der Bergstation Nid d' Aigle über den Dôme du Goûter. Auf der französischen und der italienischen Seite gilt vom 1. Juli bis am 31. August (Frankreich) bzw. 12. Oktober (Italien) eine Flugverbotszone. Ideale Startrichtungen auf dem Gipfel sind Nord bis Südwest. Bei Westwind kann vom vorgelagerten 500 Höhenmeter tiefer gelegenen Dôme du Goûter gestartet werden. Der Höhenunterschied vom Gipfel zum Landeplatz beträgt etwa 3.800 Meter.
Unmittelbar nach seinem Start dreht Fred Richtung Tal. Er überfliegt den Mont Maudit, dann den Mont Blanc du Tacul und gleitet anschliessend in Richtung Aiguille du Midi und „Mer de Glace“ (Meer aus Eis). Besonders Spass macht ihm der Konturenflug möglichst nah entlang der schroffen Grate und flachen Gletscher. Der hohe Speed aufgrund der kleinen Fläche seines Leichtschirms intensiviert das Erlebnis. Sobald der Gletscher steil abfällt und sich gewaltige Séracs unter ihm auftun, überwindet Fred die Geländekante mit ein paar hohen Wingovern vor dem Gletscherabbruch, um sich gleich danach wieder nah ans Gelände heran zu machen. Bei seinen vielen Flügen vom Mont Blanc hat er sich an dieses gewagte Spiel immer näher herangetastet und es mittlerweile zur Perfektion getrieben.
Nach etwa 40 Minuten Flugzeit berühren Freds Füsse dann am Landeplatz Bois du Bouchet in Chamonix wieder den Boden. Noch während der Schirm zu Boden sinkt, wandert Freds Blick schon wieder hinauf Richtung Gipfel. Geradezu majestätisch hebt er sich vor dem blauen Himmel ab. Und obwohl Fred diesen Blick fast täglich geniessen darf, wird er noch eine ganze Weile brauchen, um die Emotionen der letzten Dreiviertelstunde zu verarbeiten.
Fred ist enthusiastischer Gleitschirmflieger, Alpinist und ausgebildeter Bergführer. Beruflich arbeitet er als Bergretter in Chamonix.
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