In Utah hatte ein Vorbote des Winters Ende September ein weisses Kleid auf das von Dürre geplagte Land gelegt. Ein Polarwind folgte der Schneefront. In wenigen Stunden war der Sommer verschwunden wie ein Dieb in der Nacht. Am Landeplatz des Fluggebietes „Point of the Mountain“, das am Stadtrand von Salt Lake City liegt, blicken wir in das Gebirge der Wasatch Mountains. An diesem Morgen tobt auf den Bergkämmen der Wind. Vor wenigen Stunden hatte der amerikanische Pilot David Chen uns noch gezeigt, warum Point of the Mountain der Gleitschirm-Spot Nummer Eins von Utah ist. Bis in die Nacht hinein hatten wir hier einen „Blast“, eine richtig gute Zeit.
Die Gleitschirm-Szene von Salt Lake hatte sich an diesem 200 Meter Hügel versammelt, als die thermische Abstrahlung begann, die „Restitution“. Das passiert hier nach Feierabend. Schlagartig frequentierten US Piloten das Gelände. Bis zum Miniwing flog alles. Treffpunkt der Szene war die Bergkuppe. Kaum einer liess es sich nehmen hier top zu landen, stylish mit dem Wind zu spielen und dabei einen Small Talk zu halten: „How is it goin’?“, „Perfect conditions!“. Mit einem „Have a good one!“ ging es zurück in die Luft, und die staubigen Sohlen baumelten wieder hoch über der City. Die Stadt wurde zu einem Lichtermeer, und die Scheinwerferkegel eines Autos waren eine hilfreiche Landeplatzbeleuchtung. All das wirkt heute wie geträumt. Der Wintereinbruch verlangt von uns ein völlig neues Mindset. Umdenken. Unsere Erwartungen von ausserirdischen Basishöhen über dem trockenen Hochland Utahs legen wir ad acta. Ab heute erkunden wir das Land zu Fuss, sehen die Hike and Fly Ausrüstung auf unseren Rücken als Option und folgen dem Lockruf der Wildnis.
Die sagenumwobene Weite Amerikas beginnt mit der Ausfahrt vom Interstate Highway Nr.15, North Ogden. Unser Ziel ist das „Pineview Reservoir“, ein See in den Bergen, der von spärlichen Siedlungen umrandet ist. Ihre Namen könnten aus einem Jack London Roman stammen: „Wildwood“, „Huntsville“ oder „Wolf Creek“ steht auf rostigen Schildern, die nicht selten von Schrotkugeln durchlöchert sind. Es ist das Land der amerikanischen Farmer und ihrer Rinderherden. So wie die Zeit auf dem zehnspurigen Highway raste, so still steht sie nun. Das Wasser des Sees liegt regungslos wie ein Spiegel, und das Blechschild des „Old Moose Cafe“ schwingt quietschend in einer leichten Morgenbrise. Mit einem Pappbecher in der Hand blicken wir unter einem ausgestopften Elchkopf in ein Hike and Fly Paradies.
Die Hügel der Wasatch Mountains sehen durch den Neuschnee wie ein wildes Hochgebirge aus. Wir lesen die Berge mit blossem Auge, spekulieren über Aufstiegsrouten und mögliche Startplätze, und folgen bald steilen Tierpfaden in eine namenlose Bergwelt. Für uns ist es ein Anfang vieler Tage der Besinnung. Es herrscht eisiger Wind. Herbstfarben kämpfen sich noch ein letztes Mal durch die Neuschneedecke. Oft verbringen wir Stunden auf den Bergen. Wir haben unseren Blickwinkel gewechselt. Aus dem Piloten in uns wurde der Naturfreund. Und ganz leise legt dabei die Schneeschmelze das Bergland frei, Tag für Tag, und lässt im Fliegerherz wieder Hoffnung keimen.
Die intensive Zeit in den Wasatch Mountains hat uns ein Gefühl für die Windsysteme gegeben. Auch haben wir Startmöglichkeiten gefunden und konnten sie sorgfältig begutachten. Obwohl der Polarwind das Land noch immer im Griff hat, sehen wir bald Chancen auf unseren ersten Flug. Abends, in Leebereichen, wenn in der Dämmerung alle Winde an Stärke verlieren. Für den ersten Flugversuch nehmen wir einen nächtlichen Abstieg in Kauf und legen die Gleitschirme im Lee eines Bergrückens bereit. Noch zeugen Windstösse aus verschiedenen Richtungen von einem stark ausgeprägten Lee. Spät schickt die Sonne ein paar letzte Strahlen durch die Linsenwolken.
Ein Hauch von Aufwind dominiert die Situation. Unsere Segel füllen sich. Der Moment des Abhebens ist wundersam. Nach tagelangen Wanderungen fühle ich mich wie ein Kind, das nicht mehr krabbelt sondern plötzlich läuft. Und ich merke, wie mein Gleitschirm mich Dinge klarer sehen und intensiver empfinden lässt: Die Morbidität der Jahreszeit, die Farben des Lichts, sowie ein ungreifbarer Geist, der die Wasatch Mountains umschwebt. Ein verführerischer Geist, der mit Raum und Freiheit lockt und damit zu tun haben muss, was man den amerikanischen Traum nennt.
Felix ist Gleitschirm- und Drachenflieger, Fallschirmspringer sowie Bergsportler der alten Schule. Seit zwei Jahrzehnten gehört er zu den renommiertesten Gleitschirmfotografen weltweit und ermöglicht mit seiner Flugschule Fly Felice vielen Piloten neue Abenteuer.
Valerie ist seit 2021 Nachwuchstalent in Felix Wölks Flugschule und ist begeisterte Bergsportlerin, egal ob mit dem Gleitschirm, zu Fuß oder mit dem Snowboard.