In mein Tagebuch hatte ich geschrieben: „Ich möchte losgehen. Gehen, um zu gehen. Autotelisch Schritt für Schritt setzen, mir nur noch um wesentliche Dinge im Leben Gedanken machen müssen. Was essen? Wo schlafen? Wie ist das Wetter? Nicht morgen, sondern heute, im Hier und Jetzt.
Lange Gehen hat etwas Bereinigendes. Alles ist heutzutage duplizierbar. Wiederholbar. Rückgängig zu machen oder im Internet nachzulesen. Überall sein, nur nicht hier – und noch weniger bei sich ist die Devise. So vieles ist digital geworden: Freundschaften, Wissen, Erinnerungen. So komisch es klingt, aber ich sehne mich nach dem Absoluten. Nach Ausgeliefertsein. Nach Dingen, die es nur ein einziges Mal gibt auf der Welt. Wenn ich vom Regen nass werde, kann ich nicht „cmd+Z“ drücken. Wenn die Sonne rotglühend untergeht, gibt es keine Replay-Taste. Und das macht es irgendwie so schön, so einzigartig.
Jedes Abenteuer beginnt im Kopf. Und so beginnt die Reise schon im Frühling. Ich schreibe Packlisten in verschiedensten Konstellationen, überdenke die Erfahrungen vorangegangener Biwaktouren, trainiere steile Anstiege und lange Märsche, feile an der Ausrüstung. Jeder Ausrüstungsgegenstand, sei er noch so klein, wird erneut gewogen, hinterfragt und verflucht. Bei Ultraleicht-Wanderfanatikern gibt es die goldene Regel „Jeden Ausrüstungsgegenstand um ein Drittel erleichtern“. Wirklich alles. Dann werden aus Bergschuhen Trailrunningschuhe, aus einer Zahnbürste ein Bürstenkopf, aus einer Isomatte eine halbe Isomatte. Aus einem Ultraleichtzelt wird ein Tarp, aus dem Tarp wird ein leichteres Tarp, und zum Schluss nähe ich mir selber eines. Genau nach meinen Anforderungen. Bei der Sicherheit will ich wenig Kompromisse eingehen und entscheide mich für eine 900 Gramm leichte Rettung und das EASINESS 2 mit vernünftigem Airbag.
Die Vorbereitungen nehmen viel Zeit in Anspruch. Die Abende verbringe ich damit, mir auf Satellitenbildern und Karten die Topografie einzuprägen, Thermikkarten und Talwindsysteme zu studieren, Hütten zu recherchieren.
Am 7. August geht es los. Noch schnell ein letztes Schoko-Croissant vom Bäcker, dann wandern meine Freundin Moni und ich schnellen Schrittes zum Königssee. Wir wollen das erste Boot erwischen. Im Anstieg zum Steinernen Meer dann ein letzter Blick zurück nach Berchtesgaden. All die Vorbereitungen der letzten Monate und Glückwünsche der Freunde im Hinterkopf, fühlen sich die ersten Höhenmeter verdammt gut an. In der Nähe der Schmittenhöhe finden wir auf einer Waldlichtung ein ebenes Plätzchen zum Schlafen. Nach knapp 40 Kilometer und über 2000 Höhenmeter sind wir müde, aber auch ganz schön glücklich. Was für ein grandioser erster Tag!
Starker Südföhn verwehrt uns am nächsten Tag den fliegerischen Eintritt in den Streckenflug vom Pinzgau Richtung Zillertal. Zu Fuss gehen wir 30 Kilometer zur Bürgelhütte, wo mir Moni eröffnet, dass sie abbricht. Zuerst bin ich mächtig enttäuscht, dann entscheide ich, das Ding alleine durchzuziehen.
Und werde es keine Sekunde bereuen. Wann immer es geht, schlafe ich draussen. Bei Gewitter oder viel Wind in Hütten oder manchmal Gasthäusern. Um Gewicht zu sparen, verzichte ich auf Frühstück und esse mittags bei Almen. Mit aufgefüllten Energiespeichern geht es dann in die Luft oder weiter am Boden: über den Gerlosspass ins Zillertal. Weiter ins Valsertal zum Brenner. Ins Gschnitztal, Stubaital und entlang des Stubaier Hauptkamms bis ins Ötztal.
Die Tage fließen dahin. Vergehen weder langsam, noch schnell. Zeit spielt keine Rolle mehr. Statt wie erwartet über die großen Fragen des Lebens nachzudenken, wird mein Kopf einfach nur leer.
Trotz meiner intensiven Vorbereitung hinterlassen die langen Distanzen und steilen Anstiege ihre Spuren: Eine Blase entzündet sich an der Fußsohle, ich habe Überlastungserscheinungen an Bändern und Sehnen. Bei einer unfreiwilligen Landung in felsdurchsetztem steilem Gelände in den Tuxer Alpen reissen zwei Bänder im linken Fuss, ich gehe und fliege trotzdem weiter.
Jetzt, nach zwei Wochen, bin ich ganz im Rhythmus des Tageslichts; krabble häufig schon um halb neun in mein „Biwaknest“ und wache dafür vor Sonnenaufgang auf. Die ersten Schritte morgens tun oft weh, aber sobald man ins erste Sonnenlicht wandert, könnte es nicht schöner sein. Mal treibt die Mittagshitze mich in den Schatten, mal lassen Minusgrade und Schneeflocken mich ein wenig schneller gehen. Mit der Zeit wird der Ehrgeiz weniger, die Gedanken langsamer. Man sieht und erlebt nur noch das, was vor einem ist.
Nach drei Wochen ist meine Zeit um. Nur widerwillig trampe ich Richtung Berchtesgaden. Die ersten Tage zu Hause überkommt mich immer wieder das Gefühl, etwas würde fehlen. Es ist der Rucksack auf meinem Rücken. Er ist ein Stück Zuhause geworden, das ich jeden Schritt mit mir trage.
Olga ist leidenschaftliche Bergsteigerin und Gleitschirmpilotin. Die deutsche Kamerafrau und Fotografin ist seit über zehn Jahren aktiv in der Bergrettung tätig.