Durch die hellhörige Zeltwand schallen die Eruptionen des Volcán de Fuego. Kaum zwei Kilometer entfernt lässt uns der Schlund des aktivsten Vulkans Mittelamerikas keinen Schlaf. Ich öffne den Reissverschluss des Zelteingangs, um das feurige Spektakel zu beobachten: Lavafetzen und glühende Felsen regnen aus einem verglimmenden Funkenball. Kurz beleuchten sie blutrot die schwarzen Flanken eines 3.830 m hohen Kegels, an dem qualmende Felsen talwärts kugeln. Ich zwinge mich die Augen zu schliessen. Kaum akklimatisiert, plagt mich die innere Unruhe unseres bevorstehenden Abenteuers. Für den kommenden Morgen ist ein windstilles Wetterfenster prognostiziert, das letzte. Danach dominiert der Nordwind tagelang. Es wird unser dritter Versuch einer Befliegung des Acatenango – und unsere letzte Chance.
Es ist vier Uhr früh. Ob ich geschlafen habe, weiss ich nicht. Pablo packt bereits den Rucksack. Dann stapfen wir los in die finstere Nacht. Im Licht der Stirnlampen wirbelt jeder Schritt Lavasand auf. Das Atmen fällt schwer. Auf 3.800 Meter befinden wir uns in der kargen, unfruchtbaren Region des Vulkans, der sich aus der pazifischen Küstenebene erhebt. Der Aufstieg in diese Höhe war eine Reise durch verschiedene Klimazonen: Aus der Hitze der Täler wanderten wir durch das fruchtbare Ackerland. Dann durch triefenden Urwald mit einer Luftfeuchte von nahezu hundert Prozent. Es folgt eine Zone mit rätselhaft totem Gehölz, das wohl einem Ascheregen zum Opfer fiel. Erst auf 3.700 Meter Höhe beginnt das Ödland des Hochgebirges, das hier aus Sand und Lavafels besteht.
Als wir den Krater erreichen, dämmert es. Der Wind scheint heute tatsächlich zu schlafen. Wir spüren nur leichte Böen. Im Takt von wenigen Minuten spuckt der Fuego dichte Aschewolken in den Morgenhimmel. In der Tiefe liegt Guatemala unter einer geschlossenen Wolkendecke. Am Horizont rast die äquatornahe Sonne in den Tag. Ein Schwall von Farbe, Zeichnung und Kontrast überflutet das weisse Meer. Pablo und ich versuchen die Luft anhand der Wolkenbilder zu lesen. Die Einschätzung der Situation ist delikat. Früh morgens sollte es fliegbar sein, hoffen wir. Schnell sind wir startklar. Den dritten Abstieg vor Augen fülle ich das Segel. Nach fünf Schritten hebe ich vom Kraterrand ab, leise ahnend, dass es ein Abenteuer mit der Brechstange wird.
Ein himmlischer Flug beginnt. Die weisse Masse unter uns. Sie scheint ganz Guatemala zu bedecken. Doch der Blick in die Tiefe macht mich skeptisch. Im Minutentakt ändert sich das Wolkenbild. Nach 15 Minuten ohne jegliche Luftbewegung erreichen wir das Wolkenniveau. Das Tor in eine andere Welt. Jene unter der Basis, in der ein Traum zum Albtraum wird. Augenblicke später stehen wir im Wind. Ich trete den Beschleuniger. Dann drückt mich eine unsichtbare Wand im Rückwärtsgang nach Süden. Ich funke mit Pablo. Er kämpft hinter mir im Gegenwind und wird immer kleiner. 70 km/h Nordwind liest er auf seinem GPS. Wir zögern nicht, drehen ab und flüchten vor dem Düseneffekt der Vulkankegel in die Ebene. Mit 110 km/h über Grund rauschen wir Richtung Pazifik. Die Luft wird unruhiger. Ich beginne zu steigen, trete die Speedbar, dann knallt mir der erste Klapper um die Ohren.
Der Föhnwind aus Norden wird von einer Sperrschicht auf den Bereich unter der Basis
komprimiert. Bei 70 km/h gibt es Wellen und Rotoren. Aus Süd drückt vom Pazifik eine Seebrise dagegen. Wir befinden uns inmitten der giftigen Konvergenzen, die unter einem Inversionsdeckel brodeln. Es wird ernst. Pablo wurde verblasen. Ich sehe ihn wild pendelnd 400 Meter höher, weit südlich. Mich trifft der nächste unsichtbare Hammerschlag. Mein Profil ist nur noch ein Knäuel. Ok, warten, füllen, anfahren lassen. Im Rückwärtsflug beginnt ein Ringen um jeden Zentimeter. In harten Nonstop-Turbulenzen kämpfe ich gegen das Steigen und die Schläge. Ich pendle wild. Um Klapper in Schräglage zu vermeiden, verfolge ich bald eine verwegene Taktik: Ich lasse Klapper geschehen und versuche sie kontrolliert im Lot zu füllen. Immer wieder steige ich wie eine Rakete, immer wieder sind alle Zellen leer. Meine Nerven sind am Limit. Ich zwinge mich zu rhythmischer Pressatmung und eiserner Konzentration. Etwa 100 Meter über Grund trete ich entschlossen in die Speedbar und vernichte in Bodennähe mit einem pulsierenden Profil 50 Höhenmeter ohne Klapper. Dann habe ich Vorwärtsfahrt. Ich schaffe es auf ein Feld, stehe in einer Ostböe und habe kurz später Bodenkontakt. Eine Seite zweimal wickeln, die andere am A-Gurt packen! Ich reisse brachial alles runter und taumle rückwärts. Das Segel knallt auf den Boden. Ich stehe. Wenngleich auf weichen Knien. Ausgelaugt funke ich Pablo an. Er spricht und steht auf zwei Beinen. Erleichtert falle ich ins Gras, atme durch.
Im öffentlichen „Chicken Bus“ tingeln Pablo und ich zurück nach Antigua. Pablo zitiert ungläubig aus seinem GPS: „Start 6 Uhr 45. Maximales Steigen 11,4 m/s. Maximaler Wind 72 km/h.“ Er zieht ironisch Resümee: „Ein schöner Morgenflug.“ Ich sinniere, denn ich habe den anspruchsvollsten Gleitschirmflug meiner 28-jährigen Karriere durchstanden. Ein berechenbarer Gleitschirm und etwas Glück liess letztlich alles gut gehen. Mir wurden heute die Risiken der Abenteuerfliegerei ins Gedächtnis gerufen: Die Fremde mit ihren komplexen lokalen Wettersystemen, der fehlende Erfahrungsschatz im Unbekannten, der Zeit- und Erfolgsdruck als Fotograf.
Felix ist Gleitschirm- und Drachenflieger, Fallschirmspringer sowie Bergsportler der alten Schule. Seit zwei Jahrzehnten gehört er zu den renommiertesten Gleitschirmfotografen weltweit und ermöglicht mit seiner Flugschule Fly Felice vielen Piloten neue Abenteuer.
Pablo fliegt seit 2011 und hat vor vier Jahren seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Als Fluglehrer ist er in der Saison überall in den Alpen unterwegs, im kalten europäischen Winter treibt es ihn nach Süd- und Mittelamerika.