In Brasiliens Nordosten reiht sich schnell ein rekordverdächtiger Flugtag an den nächsten. Die ambitionierten Streckenflugpläne überlässt Verena gerne den Teilnehmern des XC Camps. Nach all ihren Reisen hat die Deutsche die südamerikanische Leichtigkeit verinnerlicht. Die Fluglehrerin, die sonst die Flugreisen und XC Weiterbildungen für den Schweizer Reiseanbieter leitet, beginnt ihren Urlaub in Caicó und gleich der nächste Tag zeichnet sich als perfekt ab: Wolkenstraßen und Bedingungen wie aus dem Bilderbuch. Ideal, um den ganzen Tag einfach in der Luft zu verbringen.
An Ausschlafen ist heute nicht zu denken, die Prognosen klingen viel zu verlockend. Aufstehen, Zähne putzen, einen Kaffee trinken und los geht’s auf die Piste. Am Startplatz fällt die Rekordpilotin vor allem durch ihren Minimalismus auf. Je simpler, desto besser lautet ihr Credo. Zweileiner? Nicht nötig. Ihr kleiner EN-C Schirm begleitet sie auf allen Abenteuern. Auch das kleinste Cockpit der Gruppe mit stummgeschaltetem Vario sorgt gerne für Schmunzeln. Nach all den Jahren lässt sich Verena in der Thermik am liebsten durch ihr Gefühl leiten. Und durch ihre Lieblingsplaylist: Mit Musik kommt sie viel schneller in ihren Flow als wenn das Vario piepst. So hängt sich Verena mit ihrem Sigma 11 um 6.50 Uhr an das Schleppseil.
Mit Zahnbürste, Ersatzshirt und zwei Müsliriegeln im Gepäck hebt Verena sanft ab. Das routinierte Team von Fly with Andy bringt Verena und die XC-Gruppe sicher mit der Abrollwinde in die Luft. Auch dann noch, wenn der Wind an den weiter entfernten Hangstartplätzen schon zu stark wird. Einige Piloten gehen jetzt auf Rekordjagd oder versuchen ihre persönlichen Bestwerte zu knacken. Verena dagegen lässt jeglichen Stress am Boden zurück und schaut einfach mal, wo es sie hinträgt.
Das Gelände kennt die Fliegerin wie ihre Westentasche. An ihrem Fluggerät fühlt sie sich wie zuhause. Extra für die Streckenflüge in Brasilien einen anderen Schirm fliegen? Das kommt Verena nicht in den Sinn. Beflügelt von ihrer Rückkehr in die Sertao Region floatet sie erst einmal ohne grosse Erwartungen im Flachland dahin. Mit dem starken Wind werden sich die Streckenkilometer von ganz allein ergeben.
Die ersten zwanzig Minuten des Fluges sind herausfordernd. Für viele XC-Piloten liegt hier durch die geringe Höhe und enge Thermikschläuche das größte Frustpotential. Verena hat mögliche Landeoptionen immer im Blick. Die Flugrichtung ist klar, der Wind weht aus Südost und trägt sie in Richtung Nordwesten. Bis zum ersten richtigen Aufdrehen auf 700 m fordert sie ihre Geduld heraus. Die Wolkenbasis steigt stetig an. Verena erreicht die 70 km-Marke, da gesellen sich drei andere Piloten zu ihr. Gemeinsam bahnen sie sich ihren Weg von der Blauthermik zur nächsten Wolkenstraße. Dann kommt die eine Thermik, die sie von den anderen trennt. Und Verena genießt die Aussicht wieder ganz für sich. Mit leiser Musik im Ohr, während die Vögel an ihr vorbeiziehen. Ihr Zeitgefühl beginnt zu verschwinden.
Verenas Kompass ist die untergehende Sonne. Die Nachmittagsstunden verstreichen. Die Wolken beginnen sich aufzulösen, sobald sie da ist. Auf 1700 m hilft nur die Flucht nach vorn, immer zwei Schritte vorausdenkend. Sie erreicht gerade die 350 km-Marke, aber befindet sich nur noch knapp 100 m über einem bewaldeten Hügelchen. Die Gedanken kreisen um die Landung. Schon 2019 musste sie bei genau dieser Distanz landen gehen. Aber heute nicht. Ein Vogel zeigt ihr einen engen, schrägen Thermikschlauch an. Im letzten Moment findet sie den Einstieg und dreht ein. Geschafft! Damit ist der Bann gebrochen. Verena kämpft sich jetzt bis zur Basis hoch und hat ihr Grinsen ins Gesicht gemeißelt.
Kilometer 398, die Sonne steht noch immer hoch und die nächste Stadt ist in Sichtweite. Landen gehen kommt für die Pilotin nicht in Frage. Das Ziel ist der Sonnenuntergang. Jedes Steigen nimmt sie auf der weiteren Strecke mit und erreicht ganz locker, auf die Musik konzentriert, ihre 2200 m Höhe in der Abendstimmung. Über zehn Stunden ist Verena jetzt schon unterwegs. Die Zeit ist buchstäblich wie im Flug vergangen. Ihre letzte Thermik ist schon nur noch zaghaft. Sie entscheidet sich ihren Schirm ausgleiten zu lassen und beginnt ihre Beine langsam auf die Landung vorzubereiten, während der Horizont bereits mit dem Boden in einem bläulichen Grau verschwimmt. Sie hat es bis zum Sonnenuntergang geschafft. Und ganz nebenbei sowohl ihren persönlichen Rekord gebrochen als zufällig auch den weitesten Flug mit einem EN-C Schirm hingelegt: 458 km.
Trotz allem ist es der Sonnenuntergang, der Verena am meisten berührt. Beim Zusammenpacken klingelt ihr Smartphone im Sekundentakt. Noch als sie in der Luft war bemerken ihre Freunde ihren außergewöhnlichen Flug. Ein Glück, dass ihr Handy im Flugmodus war. Sonst hätten all die Nachrichten noch ihre Musik gestört.
Verena Siegl ist im Allgäu zuhause und hat vor 15 Jahren ihre Passion zum Beruf gemacht. Seit über 10 Jahren leitet sie Flugreisen und XC Weiterbildungen bei dem Schweizer Reiseanbieter Fly with Andy und ermöglicht vielen Pilotinnen und Piloten Abenteuer rund um den Globus.
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