Nach ein paar Stunden steilem Anstieg erreichen wir Munsyari. Imposant ragt der schneebedeckte Nanda Devi in der Ferne auf. Mit 7.816 Metern ist er der höchste Berg im indischen Teil des Himalayas. Noch eine kurze Pause, dann heben wir von unserem hochgelegenen Startplatz ab. Die Dorfbewohner winken uns zum Abschied zu. Wir sind richtig gut drauf und freuen uns auf unser Zanskar-Abenteuer. In wenigen Minuten erreichen wir eine Höhe von 4.000 Metern. Die Luft ist hier deutlich kühler. Langsam arbeiten wir uns am Kamm in Richtung Westen vor.
Fliegen in einem Dreierteam hat seine Tücken. Es ist fast unmöglich, dass wir alle zusammen den Bart gleich gut erwischen. Bis wir uns über jedem Sattel als Gruppe wieder finden, vergeht einiges an Zeit. Dann beginnt die Suche nach einem Lande- und Bivakplatz. Aber wo? Die Täler unter uns sind extrem tief, die Möglichkeiten äußerst begrenzt. Wir fliegen über einen Sattel und entdecken einen ostseitigen freien Platz am Hang. Könnte klappen. Der Landeplatz liegt zwar heute im Lee. Morgen ist das aber bestimmt ein guter Startplatz.
Marc nimmt sofort Kurs. Er kämpft mit dem leeseitigen Einlanden – und legt einen Crash am Hang hin. Keine Frage, das ist eine echte Herausforderung. Fred und ich sind noch hoch in der Luft. Ich kann auf der anderen Seite sogar soaren. Aber wir haben beschlossen, zusammen zu bleiben. Also runter auf den Boden. Ein starker Gegenwind von 25 km/h weht über die Kante. Dementsprechend fallen wir im Lee förmlich nach unten. Ich erwische die Aufwindkomponente des Rotors und und kann auf der einzigen flachen Stelle des Platzes ausflaren. Geschafft!
Bei Fred läuft’s nicht so gut. Er landet im Downwash, und beim Aufsetzen bekommt er die volle Wucht seines Eigengewichts und Gepäcks ab. „Das war eine verdammt harte Landung“, vertraut Fred mir später an. „Hat echt weh getan.“ Am nächsten Morgen ist sein Fuß blau und dick geschwollen. Wir können nicht weiterfliegen. Den ganzen Tag steigen wir 1.200 Meter durch wegeloses Gelände ab bis zum nächsten Dorf. Mit Taxi und zu Fuß erreichen wir drei Tage später das Krankenhaus. Die Diagnose ist niederschmetternd: Fred hat sich einen Bruch am oberen Sprunggelenk zugezogen.
Für Fred ist das Abenteuer hier zu Ende. Marc und ich ändern unseren Plan. Wir lassen uns per Eisenbahn und Flugzeug direkt zum Sahnehäubchen unseres VolBiv-Abenteuers im Himalaya bringen: Zanskar. Unser Startplatz liegt malerisch an der Stelle, wo das Zanskar-Tal auf den Indus trifft. Die Landschaft ist einfach nur grandios. Braun-graue Erdtöne in allen Schattierungen, grüne Pappeln und bunte Gebetsfahnen stehen in eindrucksvollem Kontrast zum tiefblauen Himmel. Mit 30 Kilogramm Wasser im Gepäck fliegen wir los. Mit dem Ziel, eine der entlegendsten Gegenden des Hochgebirges fliegerisch zu durchqueren. Die Bedingungen sind herausfordernd. Das Tal, das sich vor uns über Hunderte von Kilometern hinzieht, ist sehr eng.
Marc scheinen Zweifel zu überkommen. Ich übernehme die Initiative und gehe auf Kurs. Marc bleibt in der Thermik. Er kreist weiter einen Nullschieber, ohne an Höhe zu gewinnen. Was ist los mit ihm? Die letzten Tage haben an unseren Nerven gezehrt. Hin und wieder kamen Zweifel auf. Da ist die Angst vor Verletzung, oder schlimmer noch, vor einem Flugfehler oder einer Fehlinterpretation des Wetters. Trotzdem: Ich bin hochmotiviert, eins der entlegendsten Täler der Erde unter einem Stück Stoff und an ein paar Leinen hängend, zu erforschen. Marc hingegen scheint jetzt erst zu realisieren, was Biwakfliegen im Himalaya bedeutet. „Was hast du vor, Marc?“ Ich ahne es. „Mein Erfahrungstrip ist hier zu Ende, ich fliege zurück nach Leh“, antwortet er.
Ich versuche meine Enttäuschung zu schlucken. Einerseits brenne ich für das Abenteuer. Die Gelegenheit, in dieser Region zu fliegen, wird sich so schnell nicht mehr ergeben. Aber Marc hat den Kocher und Topf im Gepäck – ohne heißes Wasser kein vernünftiges Essen! Zugegeben, ein egoistischer Gedanke. Dann denke ich an meine schwangere Frau Aurélie, die zuhause auf mich wartet. Ein Alleinflug im Zanskar-Tal könnte mein Familienleben empfindlich durcheinander bringen. Mein Blick schweift über das überwältigende Hochgebirgs-Panorama hier auf dem Dach der Welt. Dann drehe ich ebenfalls ab in Richtung Leh.
Wir entscheiden, die restlichen Tage unseres dreiwöchigen Trips im Gleitschirmmekka Bir zu verbringen und reisen per Minibus an. Das letzte Stück der beschwerlichen Reise nehme ich vom 3.978 Meter hohen Rohtang-Pass fliegend in Angriff. Wenn wir schon einmal in Bir sind, dann ist das berühmte 200-Kilometer-Dreieck ein Muss. Einfach grandios! Anschließend wagen wir uns trotzdem nochmals an ein kurzes VolBiv-Abenteuer Richtung Manali und wieder zurück. Für ein Weilchen kreisen wir mit Geiern am Himmel. Ein besonders neugieriger fliegt gefährlich nah an mich ran – und verheddert sich glatt in den Leinen. Ein Blick nach oben, mein Puls schnellt in die Höhe. Der majestätische Vogel kämpft, Federn fliegen. Wenige Sekunden später zieht er unverletzt weiter. Puuh, das war knapp! Das Erlebnis wird uns noch lange Erinnerung bleiben.
Bei unserem Biwak-Abenteuer in Indien gab’s zwar keine Kilometer-Rekorde. Aber jede Menge Herausforderungen. Freds Verletzung und Marcs persönliche Entscheidung machen die Grenzen und Risiken von Biwakfliegen deutlich. Und wenn man als Team unterwegs ist, müssen die Gefühle und Entscheidungen jedes Einzelnen respektiert werden. Wenn’s funktioniert, ist es magisch! Wenn’s nicht funktioniert, hat man immer einen Grund, es nochmal zu versuchen.
Fred ist enthusiastischer Gleitschirmflieger, Alpinist und ausgebildeter Bergführer. Beruflich arbeitet er als Bergretter in Chamonix.
Martin ist Gleitschirmfluglehrer und betreibt eine Flugschule. Mit Fred zusammen hat er Kirgisistan im VolBiv-Flug durchquert. Mit Antoine Girard flog er 2.700 km durch Chile und Peru.
Marc fliegt seit den 1980er-Jahren und arbeitet seitdem als Fluglehrer. Er war beim ersten Flugversuch vom 6.768 Meter hohen Huascaran in Peru dabei.