An einem potenziellen Hammertag gibt es kein Halten, das wissen alle, die Lukasz Prokop kennen. Wenn Wetter, Lufträume, Arbeit und Privatleben richtig grosse Strecken erlauben, scheut er keinen Aufwand. Das ist bei seinem letzten Rekordflug nicht anders. Er steigt am Vorabend um 21:00 Uhr in den Bus, legt die rund 500 Kilometer zum idealen Startfeld zurück. Um 4 Uhr in der Früh kommt er in Borowa bei Wrocław an. Die letzten zwei Kilometer legt er zu Fuss zurück. Weil der Windenführer erst um 10 Uhr kommt, gönnt er sich vor dem grossen Flug einige Stunden Schlaf.
Warum macht man so etwas? Für einen Neunstundenflug. Für 343 Kilometer freie Strecke. Für den polnischen Rekord. Alles gute Antworten, aber noch wichtiger ist die Liebe zum Fliegen. «Ich bin süchtig nach dem Fliegen», sagt er ganz offen. Am Anfang seiner Fliegerkarriere ist Lukasz oft alleine am Startplatz gewesen, weil die Bedingungen zwar fliegbar, aber sicher nicht für grosse Flüge geeignet sind. «Nicht selten hat der Windenführer nur für mich und meinen ebenso flugbegeisterten Freund gearbeitet», erinnert er sich lachend an seine ersten Flüge zurück.
343 km in 9 Stunden: Flug auf XContest.org
Ohne die Unterstützung aus seinem Umfeld würden Rekordflüge nicht funktionieren, sagt Lukasz. «Ich habe einen super Chef», sagt er. «Er weiss sofort, was los ist, wenn ich ständig nach draussen schaue.» An Tagen mit Rekordpotenzial kann Lukasz fürs Fliegen freinehmen. Der Kopf wäre sowieso nicht bei der Sache, wenn er seinen Überflieger zum Arbeiten zwingen würde, so die Sicht des Chefs.
Auch sein Privatleben muss sich nach dem Wolkenbild richten. Als er 2016 heiratet, sieht die Hochzeitsreise – sehr zum Leidwesen seiner Frau Aneta – eher unkonventionell aus. «Wir haben am Sonntag geheiratet, die Prognosen für den darauffolgenden Dienstag waren vielversprechend», erinnert er sich. Kurzentschlossen verlässt er seine Frau also bereits zwei Tage nach der Hochzeit für einen Startplatz, der 200 Kilometer entfernt liegt. Und trotzdem: Nachdem er mit seinem «329-Kilometer-Hochzeitsflug» zum zweiten Mal den polnischen Rekord bricht, kommt ihn seine Frau bei der Landung abholen. Dieser Support ist unverzichtbar.
Lukasz Prokop stammt aus Świdnik, einer kleinen Stadt im Südosten des polnischen Flachlands, wo einem weite Flüge nicht einfach in den Schoss purzeln. Wer hier weit fliegen will, muss mehr dafür tun, als der Pilot im Alpenbogen. Dass das nicht alleine der Topografie zuzuschreiben ist, merkt sofort, wer sich über die Lufträume informiert: Neben den zivilen Luftfahrtkorridoren werden die XC-Routen oft von temporären militärischen Sperrsektoren gekreuzt. Für einen perfekten Tag in Polen müssen nicht nur die Wettergötter, sondern auch die Herren Militärs mitspielen.
Obwohl auf seinem Rekordflug der Wind schwach, der Start harzig ist, lässt sich Lukasz nicht entmutigen. Nach anderthalb Stunden dreht er unter der ersten Cumulus-Wolke des Tages endlich der Basis entgegen. «Cloud Base auf 2600 Metern über Meer im polnischen Flachland, das ist unglaublich», erinnert er sich.
An einen Rekord denkt er aber nicht. Der Plan ist, einfach so lange wie möglich in der Luft zu bleiben. Lange achtet Lukasz gar nicht auf die Kilometer. Als aber sein Navi 200 Kilometer anzeigt, beginnt er auf seine Strecke zu achten. Aber auch jetzt scheint ein Rekord noch nicht realistisch. «Erst als ich die letzte Thermik des Tages erwischte, wusste ich, dass es reichen würde», gibt Lukasz zu. Sein Rekordflug ist wohl nicht nur die weiteste Strecke, sondern mit über 9 Stunden Flugzeit auch der längste Flug in Polen.
Während des Fluges findet Lukasz Zeit seiner Frau Aneta die eine oder andere Message zu schicken: «Ich habe sie hin und wieder mit meiner aktuellen Position und der geplanten Flugroute angeschrieben.» Im Endanflug erhält Lukasz plötzlich eine SMS von Aneta. «Hey Honey, ich sehe dich», schreibt sie. Als sie gesehen hat, dass Lukasz in den Südosten fliegt, hat sie beschlossen, ihren Mann bei der Landung abzuholen. «Aneta war zwei Minuten nachdem ich gelandet bin bei mir», erinnert sich Lukasz, «ich war der wohl glücklichste Mann auf der Welt.» Nach dem längsten Flug der kürzeste Retrieve, besser geht kaum.
«Ich habe früh in meiner Gleitschirmkarriere gemerkt, dass ich ein gutes Händchen fürs Streckenfliegen habe», kommentiert Lukasz seinen dritten Rekordflug nüchtern. Es sind aber nicht nur die Erfolge, mit denen er sich motiviert. Vielmehr muss immer ein Ziel am Horizont stehen, das – noch – unerreichbar scheint. Schon beim Zusammenpacken seines Schirms beschliesst Lukasz deswegen: «400 Kilometer in Polen, das ist der nächste grosse Flug.»
Lukasz hat in den letzten Jahren immer wieder spektakuläre XC-Rekorde im polnischen Flachland aufgestellt. Sein größtes Ziel hat er erreicht, als er im Sommer 2023 in Polen die 400-Kilometer-Marke knackte.
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