Nein, geplant war er nicht, der Überflug des Finsteraahorns (4.273 m), höchster Gipfel des Berner Oberlandes. Eigentlich wollten Chrigel, Patrick und Sepp eine Bergtour auf den Mönch (4.107 m) machen und von dessen Gipfel ins Tal schweben. Kurz vor dem Start der X-Alps 2019 etwas Schönes unternehmen, positive Energie sammeln, Kraft tanken für das bevorstehende Rennen, einfach einen tollen Flug mit Freunden erleben. Doch dann kam alles anders…
Die drei nehmen die letzte Bahn aufs Jungfraujoch. Steigen zur Mönchsjochhütte (3.650 m) auf. Während des Abendessens wurde gespaßt, wie schön ein Sonnenuntergangssoaring doch wäre. Für einmal nicht vor dem bekannten Schweizer Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau, sondern gerade dahinter in dieser abgelegenen Gletscherwelt. Einfach schweben, sich im Wind nach oben arbeiten. Die Sonne langsam hinter den Gipfeln verschwinden sehen. Landen und pünktlich zum Dessert wieder zurück in der Hütte. Ein Traum. Ein Traum eines jeden Piloten.
Spontan wird er wahr, der Traum. Ohne jegliche Planung. Plötzlich passt der Wind. Aus Spaß wird Ernst, der Moment genutzt. Die drei entscheiden sich für ein spontanes Soaring zwischen Hauptspeise und Dessert. Sie legen ihre Schirme gleich neben der Hütte aus, starten und soaren, bis die Sonne verschwunden ist. „Das war der schönste Flug meiner bisherigen Pilotenkarriere“, sagt Sepp. „Er war zwar nicht lang. Aber am Abend noch so hoch aufsoaren zu können, war wirklich ein unbeschreibliches Gefühl.“
Während des Desserts dann der Wettercheck für den nächsten Tag. Starker Nordostwind. Zu stark um am Mönch (4.107 m) zu starten und aus der falschen Richtung obendrein. Aus der Traum vom morgendlichen Abgleiter ins Tal. Kurze Ratlosigkeit, dann wird umgeplant. „Wir entschlossen uns, zum Walchergrat auf zu steigen und von dort nördlich ins Tal zu fliegen“, erinnert sich Chrigel. Um sechs Uhr am nächsten Tag der Aufbruch zum Startplatz. Die ersten Sonnenstrahlen bereits im Gesicht. Noch ist sie kalt, die Sonne. Trotzdem, der wolkenlose blaue Himmel und die aufsteigende gelbe Kugel am Himmel motivieren. Die Vorfreude auf den Flug steigt, das zweite Frühstück im Tal wartet.
Schirmaufziehen, abheben, schweben. Schweben nach unten, dem geplanten zweiten Frühstück entgegen. Oder doch nicht? Es trägt. Es fliegt. Und wie es fliegt. Innerhalb 12 Stunden müssen die Piloten erneut umplanen. Spontan sein. Die Windkomponente an diesem frühen Morgen stimmt. Ohne jegliche Absprache fliegen Chrigel, Patrick und Sepp südwärts via Fiescherhorngruppe. Soarend am frühen Morgen. Die Drei gewinnen an Höhe. Die Sonne wandert weiter über den Horizont, spendet jetzt Wärme. Mit dem Wind im Rücken geht es Richtung Finsteraarhorn (4.274m). Eines der abgelegensten Gebiete der Schweiz.
Eine Landung unten auf dem Gletscher würde fatale Folgen haben. Nicht nur wegen den Gletscherspalten, sondern auch wegen der Abgeschiedenheit. Zu Fuss wird ein ganzer Tag benötigt, um die Schutzhütte am Rande des Gletschers zu erreichen, sagt Chrigel. Ihre aktuelle Höhe lässt solche Gedanken schnell wieder verschwinden. Gemeinsam überfliegen sie den Gipfel. Das Gipfelkreuz wird kleiner, die einzelnen Spalten des Gletschers sind nicht mehr zu sehen. Ein einziges weißes Meer. Den Blick über die Schweizer Bergwelt schweifen lassen, träumen und dann zurück aufs Vario: 4400 Meter über Meereshöhe. 7 Uhr morgens. Unglaublich.
Patrick fasziniert im Nachhinein vor allem die Tatsache, „dass wir problemlos und völlig unerwartet übers Finsteraarhorn hinaus schiessen konnten, als wäre das etwas ganz Normales. Die ganze Konstellation, als Freunde ohne jegliche Erwartungen gemeinsam mit so etwas belohnt zu werden, das war schon etwas ganz Besonderes.“ Und Sepp: „Der Finsteraarhorn-Flug hat den Vorabend nochmals getoppt. Kaum zu glauben! Es waren mit Abstand meine zwei schönsten Flüge bisher. Ein Privileg so etwas zu erleben. Einfach nur Genuss pur. Pure Freude.“
Das Fazit? „Die heutige Gesellschaft will zu jedem Zeitpunkt alles planen und im Griff haben. Spontan entscheiden, sich den Gegebenheiten anpassen ist aber viel wichtiger. Spontane Zufälle annehmen und genießen“, so der Ratschlag von Chrigel. Aus einem vermeidlich gemütlichen Abgleiter wird ein Flug der Superlative. Ein Erlebnis, das nicht geplant werden und einem keiner nehmen kann. Die veränderte Wettersituation genutzt und sich spontan angepasst. Weg vom geplanten, vermeidlich sicheren und hin zum Abenteuer. Zum Abenteuer direkt hinter der Haustüre, inmitten der Schweizer Viertausender-Giganten. Einsam und unglaublich beeindruckend. Chrigel erinnert sich an ähnliche Situationen während seiner sechs X-Alps Teilnahmen: „Es gibt Situationen, bei denen du nicht verstehst, was los ist. Aber wenn es steigt, dann steig. Überleg nicht lange, ob es Thermikfliegen oder Soaren ist. Passe dich der Situation an und versuche nicht, die Situation dir anzupassen.“
Chrigel Maurer hat bereits acht Mal die X-Alps gewonnen, dreimal in Serie den Gesamtweltcup und wurde Europameister. "Der Adler vom Adelboden" ist jedem Gleitschirmpiloten ein Begriff. Sein enormes Wissen gibt er in unzähligen Vorträgen, über die von ihm gegründete X-Alps Academy oder anlässlich von persönlichen Coachings an Piloten und Nachwuchstalente weiter.
Patrick ist Testpilot bei ADVANCE und erfolgreicher Wettkampf- und Streckenflugpilot. Er realisiert regelmässig eindrucksvolle Abenteuer. 2019 hat er als jüngster Teilnehmer die X-Alps bestritten und 2021 wurde er sensationeller Zweiter.
Sepp ist ambitionierter Bergsteiger und Gleitschirmpilot. Am X-Alps 2019 war er Supporter von Patrick von Känel. Nur wenige Wochen später stand er gemeinsam mit ihm und mit Chrigel Maurer auf dem Podest der Eiger-Challenge in Grindelwald.